Gramatneusiedl (Marienthal)


Gemeinde Gramatneusiedl

Ortsgeschichte

Südlich der Stadt Schwechat an den Ufern der Fischa liegt die Marktgemeinde Gramatneusiedl. Die älteste Erwähnung des Ortes findet sich im Jahr 1120: In der nur mehr durch eine Abschrift im Kopialbuch Stiftes Melk überlieferten Urkunde wurden die Zehentgrenzen der Pfarre Traiskirchen beschrieben; unter den aufgezählten Lokalitäten wird auch Gramatneusiedl – Gezenniusidelen erwähnt. Im 13. Jahrhundert taucht auch der Ortsname Obern Neusid auf.

Die nächsten Nachrichten stammen erst aus dem 14. Jahrhundert. 1318 kam die Herrschaft, die zuvor Wernher von Laa innehatte, in den Besitz der Brüder Hans und Rudolf von Ebersdorf. 1373 wurde die Herrschaft geteilt. Besitzer der einen Hälfte waren bis 1428 die Ebersdorfer; ihnen folgten die Ladendorfer und schließlich die Liebfrauen-Bruderschaft der Domkirche St. Stephan zu Wien. Die andere Hälfte besaß bis 1398 die Familie Tirna. In diesem Jahr verkauften sie ihren Anteil an das Metropolitankapitel zu St. Stephan. 1520 vereinigte das Metropolitankapitel die Herrschaft wieder.

Während des ersten osmanischen Einfalls 1529 verwüsteten Streitscharen den Ort. Um 1544 gab es nur mehr 15 bewohnte Bauernhöfe. 1621 verkaufte das Metropolitankapitel die Herrschaft an Hieronymus von Bonacina. Seine Söhne veräußerten sie 1642 an Fürst Hartmann von Liechtenstein. 1668 fiel die Herrschaft wieder an das Metropolitankapitel zu St. Stephan. 1683 überfielen wieder Osmanen den Ort; ein Großteil der Bevölkerung wurde erschlagen oder in die Gefangenschaft geführt. Von den 49 in den Matriken verzeichneten Familien überlebten nur sieben. Auch unter den Kuruzzeneinfällen 1704–1708 hatte die Region zu leiden. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde die teilweise zerstörte Kapelle umgebaut. Aus erbeuteten Türkenkanonen ließ man eine Glocke gießen.

In einer von Maria Theresia in Auftrag gegebenen Umfrage vermerkte Ferdinand Royß 1754 für den Ort 240 Bewohner. Es gab noch keine Schule; die Kinder mussten zum Schulmeister nach Moosbrunn gehen. An Gewerben waren nur ein Schmied, ein Schuster und ein Leinweber vertreten. Die Wasserkraft der Fischa wurde zumindest seit 1636 zum Betrieb von Mühlen genützt. 1636 wurde die erste Mühle errichtet, die spätere Ladenmühle. Ignaz Osmann erwarb die Mühle 1751 und ließ sie umbauen. Um 1773 ließ er eine weitere Mühle an der Piesting zwischen der Ladenmühle und dem Dorf errichten, die Theresienmühle, benannt nach Maria Theresia, die bisweilen in seinem herrschaftlichen Hof abstieg, wenn sie ins Bad nach Mannersdorf reiste. Der Wiener Domherr Georg Ignaz Ruschko ließ 1762 neben der Kirche eine Schule errichten. Während der Napoleonischen Kriege hatte Gramatneusiedl unter Einquartierungen zu leiden.

Zur Zeit Schweickhardts („Darstellung des Erzherzogthums Österreich unter der Ens“, 1832) bestand das Dorf aus 45 Häusern mit 53 Familien. Zum Gottesdienst mussten die Gläubigen nach Moosbrunn gehen. Der Viehbestand belief sich auf 77 Pferde, 26 Ochsen, 104 Kühen und 161 Schafen. 1820 erwarb der k.k. Rat Leopold Pausinger die Theresienmühle und ließ dort durch seinen Direktor Franz Wurm eine Flachsspinnerei einrichten. 1823 wurde sie erstmals „Marienthal“ genannt. Auf eine kurze wirtschaftliche Blüte folgte ein rascher Niedergang, verursacht durch die Verhaftung des Direktors wegen Banknotenfälschung. 1832 erwarb der Wiener Hermann Todesco die Fabrik Marienthal und erhielt die Erlaubnis zur Errichtung der „k.k. privilegierten Marienthaler Baumwoll-Gespinnst- und Wollwaren-Manufaktur-Fabrik“. Auf den Gründen der alten Fabrik ließ er ein neues dreigeschossiges Gebäude errichten. Ein Jahr später folgte eine Fabriksschule, die bis 1885 bestand. Die Fabrik verfügte 1835 über eine Baumwollspinnerei mit 6.500 Spindeln und einer Weberei mit 80 Webstühlen. Sie bot 359 Beschäftigte Arbeit. Für die aus Böhmen und Mähren angeworbenen Weber errichtete man eine Arbeitersiedlung. Als das Metropolitankapitel 1840 für den Bau der Domherrenhäuser in Wien Geld benötigte, ließ es die Herrschaft Gramatneusiedl versteigern. Die Gemeinde erhielt den Zuschlag; für den Kredit in der Höhe von 60.100 Gulden bürgten 24 Bauern. Bis 1848 hieß der Ort nun „Freie Gemeinde-Herrschaft Gramatneusiedl“.  

Mit der 1846 erfolgten Inbetriebnahme der Bahnstrecke Wien-Bruck an der Leitha („Raaber Bahn“) erhielt Gramatneusiedl einen Bahnhof. Die Choleraepidemien der Jahre 1849 und 1855 forderten auch im Ort ihre Opfer. Die Angst vor Seuchen veranlasste die Gemeinde 1850 zur Errichtung eines Choleraspitals außerhalb des Ortes, das erst 1925 aufgelassen wurde. Ferner legte man einen sog. Cholerafriedhof für die Seuchenopfer an. Nach dem zweiten Ausbruch der Seuche veranlasste eine Sanitätskommission die Anlage eines Friedhofs in Gramatneusiedl. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Verstorbenen noch in Moosbrunn bestattet. 1866 suchte die Cholera wieder den Ort heim; 54 Opfer waren zu beklagen. Eingeschleppt hatten die Seuche sächsische Soldaten, die an der Seite der Kaiserlichen gegen die Preußen gekämpft hatten. Sie waren eine Zeit lang im Ort untergebracht gewesen. Um der größer werdenden Schülerzahl Rechnung zu tragen, errichtete man 1875 ein größeres Schulgebäude neben dem Gemeindehaus.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Gemeinde mit der Verbesserung der Infrastruktur. 1925 erfolgte die Elektrifizierung; ein Jahr später nahm man gemeinsam mit der Gemeinde Moosbrunn die Regulierung der Piesting in Angriff, die in der „Feuchten Ebene“ bei Gramatneusiedl in die Fischa mündet. Nahezu jährlich kam es in diesem Gebiet zu weiträumigen Überflutungen. Der Weltwirtschaftskrise fiel die Spinnerei und Weberei in Marienthal zum Opfer. Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark expandierende Betrieb war während des Ersten Weltkrieges Heereslieferant. Ab 1925 erzeugte man im Werk Kunstseide. Der Niedergang war ab 1929 nicht mehr aufzuhalten. Die Fabrik wurde liquidiert und 1930 geschlossen. Nur wenige der Arbeiter*innen fanden eine Beschäftigung. Die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit untersuchten Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel. Die 1933 veröffentlichte Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ gilt heute noch als richtungsweisende Arbeit in der Soziologie. 1933/4 erwarben Walter Prade und Kurt Sonnenschein einige Objekte der Fabriksanlage und richteten dort ein kleine Spinnerei und Weberei ein, die immerhin bis zu 130 Arbeitsplätze umfasste. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1938 wurden die Besitzer enteignet. Sie emigrierten nach Großbritannien. Mit der Schaffung von „Groß-Wien“ wurde Gramatneusiedl Teil des 23. Wiener Gemeindebezirkes. In den letzten Kriegstagen fielen einige Bomben auf den Ort. Während der Kämpfe zwischen der abziehenden Deutschen Wehrmacht und den nachdrängenden Einheiten der Sowjetarmee traf eine Granate den Kirchturm. 1949 erfolgte der Um- und Erweiterungsbau der Kirche; der Architekt war Johann Frank. Im selben Jahr wurde die Filialkirche zur Pfarre erhoben.

Mit der Auflösung von „Groß-Wien“ wurde Gramatneusiedl 1954 wieder zu einer eigenständigen Gemeinde. Die folgenden Jahrzehnte standen im Zeichen der Verbesserung der Infrastruktur sowie der Wohnraumbeschaffung. Neue Siedlungsgebiete wurden erschlossen. 1969 wurde das neue Gemeindeamt eröffnet. Gramatneusiedl war die erste Gemeinde Niederösterreichs, die über einen Flächenwidmungsplan verfügte (1970). Mit Bescheid vom 1. Dezember 1981 verlieh die NÖ Landesregierung der Gemeinde ein Wappen: In einem grünen Schild zwei gekreuzte, abwärts gewendete, silberne Sensen, die überragt werden von einem, durch einen silbernen Faden getrennten, roten Schildeshaupt, welches mit einem goldenen Weberschiffchen belegt ist. Gleichzeitig wurden Gemeindefarben Grün-Weiß-Rot genehmigt.

Marienthal, das einzigartige Denkmal einer biedermeierlichen Arbeitersiedlung, wurde ab 1987 schrittweise saniert. Im Zuge dessen wurde 1990 das neue Gemeindezentrum am Platz des ehemaligen Arbeiterheimes Marienthal eröffnet. Am 20. Oktober 1994 erfolgte der Beschluss des NÖ Landtages Gramatneusiedl zum Markt zu erheben. Für die vorbildliche Revitalisierung von Marienthal erhielt die Marktgemeinde 1999 den Dorf- und Stadterneuerungspreis. Mit 1. Jänner 2017 wurde der Bezirk Wien-Umgebung aufgelöst. Gramatneusiedl wurde in den Bezirk Bruck an der Leitha eingegliedert.